10. Juli
Puh, ich bin echt durch. Ich habe mich in den vergangenen vier Wochen durch so ziemlich alle Markteinschätzungen und Prognosen zur Entwicklung des Agenturmarktes gekämpft. In den Fachmedien, bei den Experten-Posts auf LinkedIn und in den einschlägigen new business-Podcasts.
Und was soll ich sagen, ich bin sowas von belesen, aber was unsere zukünftige Positionierung der Agentur betrifft, bin ich keinen Deut schlauer. Da gibt es die Untergangspropheten („Werbeagenturen sind die neuen Videotheken“), die Daswirdallesnichtso schlimm-Abwiegler („die KI ist nur so gut, wie der Mensch der sie steuert“), die Wolkenschieber („Unsere Branche muss wieder spielen lernen“), die Nischenprediger ("klein, aber oho und spezialisiert") und die radikalen Neudenker („KI ist mehr als ein Tool. Wir müssen Prozesse und Geschäftsmodelle komplett neu denken“). Und dann gibt es da noch den MAGA-Mann mit seinen Zoll-Spielchen und unsere auch so schon schlappe Konjunktur.
Aber Jammern hilft nix, morgen haben wir unseren New Business-Workshop mit Maria, Anastasia und Bernd. Normalerweise führe ich nach dem Moses-Prinzip: „Wenn ich will, dass andere mir folgen, muss ich vorangehen!“ Aber ehrlich gesagt weiß ich gerade nicht, wohin ich gehen soll. Oder, ob ich überhaupt irgendwo gehen will. Will ich eine Schmiede mit Prompt Engineers führen? Die Hidden Champions in der Provinz bei der Transformation ihrer Kommunikation beraten? Oder einfach weiter geile Kreation machen, die aber zugegebenermaßen keiner bezahlen will? Erfahrene Händler wissen: Zu viel Auswahl ist nicht gut. Eine günstige und eine gute Marmelade reicht im Sortiment. Welche Sorte kochen wir künftig?
11. Juli
NB-Day. Ich habe gestern allen nochmal geschrieben, dass wir uns mehr Zeit dafür freischaufeln, mindestens einen halben Tag. Heute bin ich der letzte, der den Konfi von HAUPTGEWINN betritt.
Maria startet: „Ich hatte euch ja gebeten, mir ein bisschen Overtime zu geben. Die nehm ich mir jetzt für einen kleinen Monolog. Wenn mich nicht alles täuscht, wir haben ja gelegentlich schon bilateral gesprochen, dann haben wir alle in den vergangenen Wochen jede Menge Gedanken und Szenarien gewälzt.“
Alle nicken zustimmend. Bernd, unser Berater, sagt: „Bei mir in Frejus an der Côte war das aber nur im Schatten möglich.“
Maria fährt fort: „Jeder so wie er kann, Bernd. Ich hatte vor kurzem einen Brainsecco-Abend mit dem Agency Female Leaders Club (AFLC). Wir haben den ganzen Abend fast über nichts anderes gesprochen als über die Zukunft unserer Branche. Und unter uns: Wir Frauen haben auch keine allgemeingültige Lösung gefunden. Der Unterschied zu euch Männern: Wir geben das zu.
Wie hat einer der Kommentatoren unter deinem letzten Tagebucheintrag so schön gespottet, Andreas: Wir bei HAUPTGEWINN sind eine ,Non-Profil-Agentur‘. Und wir wissen alle: Damit hat er Recht. Was machen wir mit der Erkenntnis? Machen wir den Laden zu? Disrumpieren wir unser Geschäftsmodell oder versuchen wir eine Transformation?
Schweigen im Raum.
Maria spricht weiter: „Ich habe mich dann auch mal mit einem – meiner Meinung nach – Grundsatz-Dilemma beschäftigt, das uns im Verhältnis Mensch-Technologie schon länger beschäftigt: Die Technologie entwickelt sich schneller als der Mensch ihr folgen kann. Und durch KI verstärkt sich dieser Graben. Deshalb wage ich mal eine These: Vieles, was KI kann und soll, wird an den Menschen, Strukturen und Prozessen in den Unternehmen scheitern. Gartner hat auch gerade prognostiziert, dass die meisten KI-Agenten floppen werden. Kein Wunder, denn das tun die meisten Produktinnovationen auch. Würde Gerhard Schröder noch regieren, er hätte eine ,KI-Politik der ruhigen Hand‘ gefordert.
Und damit sind wir mitten im Thema: Ich glaube, wir mit unserer Agenturgröße können niemals das Rattenrennen der First und Second Mover gewinnen. Wir sind die Berater der Slow Mover. Und mit diesem Ansatz bedienen wir ein Wunschdenken vieler CEOs und Geschäftsführer: Nämlich, dass der Wandel doch nicht so radikal und schnell kommt, wie befürchtet.“
„Mutige These, Maria“, räuspert sich Bernd. „Das lässt sich aber gerade new business-technisch eher schlecht verkaufen, oder?“
Maria nimmt Fahrt auf: „Glaubst Du denn noch an das klassische New Business, wie wir es gelernt haben, Bernd? Exzessives Networken an 10 Abenden im Monat, Drückerkolonnen per Mail, Schleim-Posts via LinkedIn Direct Message oder Fake-Einreichungen bei Awards? Oder buchst du bei diesen LinkedIn-Experten, die dir garantiert zehn Kontakte in drei Tagen vermitteln?“
„Also bitte, Maria. So habe ich das nicht gemeint. Ich weiß, dass die klassischen New Business-Strategien derzeit nicht verfangen. Und selbst mit einer ausgefeilten Content-Strategie dauert es Minimum sechs Monate bis zum nächsten Neukunden“, erwidert Bernd.
„Und was empfiehlst Du, Bernd?“, faucht Maria.
Bernd lächelt: „Downsizing, Maria. Ich habe mir eure wirtschaftlichen Kennzahlen nochmal angeschaut und ihr könnt maximal noch drei Monate in dieser Größe überleben, bevor es wirklich an die Substanz geht. Ich weiß, das ist bitter, aber so schaut‘s aus.“
„Aber Mitarbeitende zu entlassen, ersetzt keine Strategie“, sagt Anastasia. Bernd schnaubt und nimmt seine Oliver Peoples-Brille (Modell Gregory Peck) pickiert ab: „Ihr seid die Firmeninhaber und Entscheider. Ich als Berater kann euch nur Lösungsoptionen aufzeigen. Und ich halte die Option, mit maximal 5 bis 7 Mitarbeitenden weiterzumachen, für die Beste. Damit erkauft ihr etwas Zeit, euch kleiner, aber hochspezialisiert aufzustellen.“
Ich versuche, das emotionale Raumklima etwas abzukühlen: „Also, ich fasse mal zusammen. Unser Berater empfiehlt uns, zu schrumpfen. Maria glaubt, dass die Umsetzung vieler KI-Strategien an den Menschen und Organisationen scheitert. Und Anastasia vermisst eine Strategie. Richtig?“
„Ja“, sagt Anastasia. „Aber ich muss euch noch etwas mitteilen, was der Agentur auch nicht wirklich weiterhilft. Mein Mann wurde in der Ukraine gestern abend an der Front verwundet. Das Gute ist: Er lebt, die Verletzung ist nicht lebensgefährlich, aber ich muss dringend zurück.“
„Anastasia, warum hast du das nicht gleich gesagt?“, Maria ist schockiert. „Dieser ganze Firlefanz rund um New Business und Werbung ist doch total lächerlich angesichts dieser Nachricht. Können wir Dir irgendwie helfen?“
Anastasia: „Ja, tatsächlich, ihr könntet mich und meine Tochter Milena mit dem Auto an die Grenze nach Polen fahren, falls das geht. Dann nehme ich von dort aus den Zug nach Odessa. Wenn das aktuell möglich ist.“
Ich bin dann nach Hause gefahren, habe mich umgezogen und den Wagen geholt. In knapp 12 Stunden waren wir in Medyka an der polnisch-ukrainischen Grenze. „Ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns wiedersehen“, habe ich zum Abschied bei unserer letzten Umarmung zu Anastasia gesagt. „Bitte melde Dich, wenn wir etwas für Dich tun können.“ Dann sind Anastasia und Milena über die Grenze.
Fortsetzung folgt