29. März
I’m back. Und ich habe lange überlegt, ob das eine gute Entscheidung ist. Denn verglichen mit den letzten sechs Monaten in meinem Leben ist der Fünfer-Looping auf der Wiesn ein Kettenkarussell. Die treuen Leser:innen meines Tagebuchs erinnern sich vielleicht: Im September 2024 hatte mir meine Co-MD und langjährige (Geschäfts)Partnerin Maria, das Herz und Hirn unserer Agentur, eröffnet, dass sie schwanger ist. Und zwar nicht von irgendjemand, sondern von Mario, dem Marketingchef unseres Großkunden. Der jetzt ein Ex-Großkunde ist, weil wir wegen einer firmeninternen Compliance-Richtlinie umgehend den Etat abgeben mussten, da beide ein Paar sind und Aufträge nicht an Lebenspartner vergeben werden dürfen. 50 Prozent unseres Umsatzes waren innerhalb von drei Monaten futsch. Ein paar Mitarbeitende auch. Und dann kam ein überraschender Brief meines Vaters, dem der BRUNNBRÄU gehört, eine kleine Brauerei in Kreuzostheim an der Mainschleife. Er wollte mich „mal wieder persönlich treffen“. Seitdem habt ihr nichts mehr von mir gehört. Funkstille oder Schreibblockade? Nein, das war eher eine kleine Sinn- bzw. Lebenskrise. Aber am besten erzähle ich der Reihe nach:
Rückblick
24. Oktober 2024
Morgen fahre ich nach Kreuzostheim. Der Termin mit meinem Vater, dem Ober-Haupt unserer Familie, steht. Ich habe mich vorbereitet, sowohl privat als auch strategisch. Ein paar Maßnahmen für die Verjüngung der Marke BRUNNBRÄU habe ich auch schon mal optisch skizziert. Und mit meinem Steuerberater und Rechtsanwalt habe ich andiskutiert, wie eine Firmenübergabe am besten gehandhabt werden könnte – insbesondere aus steuerlichen Gründen. Aber vielleicht hat sich Volker, mein Vater, da schon seine eigenen Gedanken gemacht. Wenn ich ehrlich bin: Ich bin ziemlich angespannt. Wir haben uns fünf Jahre nicht mehr persönlich gesehen. Das letzte Mal zu seinem 70. Geburtstag, den er über die Firma groß ausgerichtet hatte.
25. Oktober 2024
Der BRUNNBRÄU hat Ähnlichkeit mit einem Kloster. Er liegt auf einer kleinen Anhöhe, die Gebäude stammen aus dem vorigen Jahrhundert. Im Erdgeschoss des linken Haupthauses stehen die Sudkessel, zwischen den beiden Hauptgebäuden aus Backstein ragt ein großer Schornstein in die Höhe. Rechts stehen die Abfüllanlagen und darüber die Verwaltung. Die hohen, unterteilten Glasfenster geben dem Ganzen den Charme eines Industriemuseums. Der BRUNNBRÄU atmet noch Brauer-Handwerk, sieht von außen aber so aus, als hätte er seine besten Zeiten hinter sich. Und doch überkommt mich ein bisschen Wehmut, wenn ich daran denke, wie ich hier früher im kleinen Park und in den Produktionshallen Verstecken gespielt habe. Nach langer Zeit heimzukommen ist irgendwie immer Schmerz und Wehmut zugleich.
Wow, großer Empfang. Mein Vater erwartet mich persönlich vor dem Haupteingang. Er freut sich sichtlich und wir umarmen uns. „Komm rein, Sohnemann, wie geht’s Dir. Gut schaust Du aus.“ Wir gehen in sein Büro im obersten Stockwerk. Er ist noch ganz gut in Form, nur auf der letzten Etage schnauft er ein wenig. Wir lassen uns beide in seine Ledergarnitur fallen, die vor 15 Jahren sicher teuer war, aber nun ihre besten Tage sichtlich hinter sich hat. Auf dem Tisch steht das ganze Sortiment des BRUNNBRÄU und zwei Gläser. Und an den Wänden hängen Porträts meines Großvaters und des Ur-Großvaters, der die Brauerei noch vor der Machtergreifung Hitlers gegründet hatte.
„Lass uns was trinken, auf das Wiedersehen. Du machst Dich ja ganz schön rar.“ Ich will gerade zu einer Erwiderung ansetzen, da hebt er die Hand: „Bitte entschuldige, das sollte kein Vorwurf sein. Typisches Gequatsche von Eltern, die ihre Kinder zu selten sehen. Lass uns lieber gleich in medias res gehen, ich will gar nicht lange drumrumreden. Du wirst dich sicher gefragt haben, was ich von Dir will. Um es kurz zu machen: Ich brauche deine Hilfe. Nein, lass es mich anders formulieren. Ich möchte dich um deine Hilfe bitten. Bevor, Du antwortest, lass mich kurz erklären: Du hast es wahrscheinlich schon länger bemerkt. Der BRUNNBRÄU ist wie ich, er ist in die Jahre gekommen. Eigentlich bräuchten wir schon längst ein komplettes Redesign. Von den Flaschen bis zum Design der Etiketten. Und natürlich müssen wir auch dringend an die Produktpalette ran, weil die jungen Leute immer weniger Helles trinken und mehr auf Alkoholfreies oder Biermix-Getränke stehen.“
Läuft! Ich grätsche dazwischen: „Vater, lass mich kurz einhaken. Ich finde deine Analyse top und sehr selbstkritisch. Das hätte ich, ehrlich gesagt, nicht von Dir erwartet. Aber ich bin zum selben Ergebnis gekommen und habe mir auch schon ein paar Gedanken gemacht und sogar ein paar Sachen mitgebracht. Soll ich Sie Dir kurz zeigen?“
„Warte noch kurz, Andreas. Ich bin noch nicht fertig. Ich bin nicht ganz alleine zu diesem Ergebnis gekommen. Ich habe mich beraten lassen. Von meiner neuen Partnerin, die seit anderthalb Jahren in der Firma ist und seit kurzem auch in der Geschäftsleitung. Anastasia ist gelernte Marketing-Fachfrau. Sie ist gemeinsam mit ihrer Tochter Milena vor dem Angriff der Russen aus der Ukraine geflüchtet und wohnt seitdem bei mir. Wir haben schon ein paar Ideen und Konzepte für den Relaunch des BRUNNBRÄU erarbeitet, aber Anastasia kennt die deutsche Mentalität natürlich noch nicht so gut. Deswegen wäre es mein Wunsch, dass Du sie als Experte unterstützt. Über das Finanzielle werden wir uns bestimmt einig.“
Ich sacke tief in meinem Ledersessel zusammen. Wenn Enttäuschung ein Gesicht hat, dann sicher meines in diesem Augenblick. „Warum weiß ich nichts davon, dass Du eine neue Freundin hast. So lange schon. Und warum hast Du nicht mich um Rat gefragt. Meine Agentur und ich wir sind Relaunch-Profis. Wir hätten das perfekt umgesetzt. Und jetzt soll ich meine Stiefmutter in spe beraten, von der ich nichts, aber auch gar nichts weiß. Kennt die sich mit der Bierbranche überhaupt aus? Vater, so geht das nicht. Jahrzehntelang hälst Du mir vor, in welch unseriöser Branche ich arbeite und was für ein windiges Geschäft die Werbung ist und jetzt soll eine Anastasia aus der Ukraine unsere Familienbrauerei retten? Das ist doch absurd. Wahrscheinlich hast Du ihr auch schon das Erbe übertragen, oder?“
„Da echauffiert sich mein Herr Sohn, der sich die letzten zwei Jahrzehnte um ‚unsere Familienbrauerei‘ aber auch so gar keine Gedanken gemacht hat. Der sich nur blicken lässt, wenn Jubiläen oder Beerdigungen anstehen. Du interessierst Dich doch Null für die Brauerei, maximal vielleicht für das Erbe. Wenn ich über Dich etwas erfahren will, dann muss ich googlen. Da finde ich dann Bilder von irgendwelchen Events und Awards, auf denen Du irgendso einen Acryl-Buchstaben in die Höhe hälst, dämlich in die Kamera grinst und in einer Gruppe junger Menschen stehst, von denen die Hälfte so angezogen sind, als würden sie gerade von der Love Parade kommen. Du hast doch keine Ahnung davon, was es heißt, eine regionale Brauerei zu führen. Und Null Interesse an mir.“
Ich springe aus dem Ledersessel auf: „Vater, dieser blöde Acryl-Buchstabe, das war der Effie. Das ist in unserer Branche in etwa das, was beim Bier der Bundesehrenpreis des Brauer-Bunds ist. Und überhaupt, warum soll immer ich den Kontakt suchen. Früher hast Du doch vor lauter Arbeit immer keine Zeit für mich gehabt. Und jetzt soll ich Dir hinterherlaufen? Das wird mir jetzt zu dumm. Ich gehe.“
„Wenn man dich braucht, Andreas, dann läufst Du immer weg. Bitte bleib. (Lange Pause) Gib Anastasia und mir eine Chance. Lass uns zu dritt zum Abendessen in der Goldenen Gans treffen. So wie früher. Bis dahin kannst Du Dich ja auch in der Brauerei oder im Ort noch ein bisschen umschauen und Erinnerungen auffrischen. Was meinst du?“
Ich habe zugestimmt. Aber um runterzukommen bin ich erst mal an die Mainschleife zum Spazierengehen. Das habe ich früher auch immer gemacht. Am kleinen Kiosk, der noch genauso aussieht wie vor 20 Jahren, hole ich mir einen Kaffee, setze mich auf eine Bank und zähle die Lastkähne, die Main auf- und abwärts schippern. So wie früher. Sieben in einer halben Stunde.
Natürlich hat mein Vater recht. Ich habe mich in den letzten Jahren weder um ihn noch um den BRUNNBRÄU gekümmert. Aber ich habe ein Recht auf ein eigenes Leben. Und er hat sich auch nicht wirklich um mich gekümmert. In unserer wechselseitigen Anrufbilanz liegt er nur marginal vorne. Und dann zieht der alte Bock eine junge Ukrainerin, die er erst kurz kennt, seinem eigenen Sohn vor. Was für ein Misstrauensbeweis. Ein bisschen neugierig bin ich aber irgendwie schon. Dann werde ich die Dame heute abend mal etwas fachlich grillen. So leicht gebe ich mich nicht geschlagen.
25. Oktober 2024 - abends
Die Goldene Gans ist ein Traditions-Wirtshaus besserer Qualität. Eines das gerade im abendlichen Lichterglanz gemütliche Solidität ausstrahlt. So etwas Warmes, Heimeliges. Ich gehe hinein. Mein Vater sitzt in einer Ecke. Alleine.
„Schön, dass Du gekommen bist, Andreas. Setz Dich. Lass uns den Streit von vorhin bitte begraben. Anastasia kommt gleich. Sie macht sich noch kurz frisch. Was magst Du trinken? Vielleicht unser dunkles Weißbier?“
„Ja, gerne. Ich habe mir ein Zimmer genommen und werde erst morgen früh zurückfahren. Weißbier ist ok.“ Als ich mich umdrehe, um meine Jacke aufzuhängen, kommt mir eine äußerst attraktive Frau entgegen. Schlanke Figur, sportlicher Typ, selbstbewusster Gang, sympathisches Lächeln. „Du musst Andreas sein. Ich bin Anastasia“, sagt sie.
Den Rest des Abends verbringe ich einer Wolke aus Plattitüden und Smalltalk. Gefühlt rede ich den ganzen Abend nur gequirlten Mist, weil mich diese Frau dermaßen fasziniert. Der BRUNNBRÄU, der Streit und der geplant Relaunch verschwinden hinter einem Schleier aus Wohlgefühl und Schockstarre. Irgendwann, nach dem Espresso, sagt mein Vater: „Das freut mich, dass ihr Euch so gut versteht. Ihr werdet sehen, der Relaunch wird ein großer Erfolg. Lasst uns doch nächste Woche besprechen, wie wir weitermachen.“ Ich bin dann auf mein Zimmer. Geschlafen habe ich wenig bis gar nicht. Thomas Tuchel würde sagen: „Ich bin schockverliebt.“ Dummerweise in die Partnerin meines Vaters. Was für eine Sch…
26. Oktober
Der Morgen danach: Keine Ahnung, was ich jetzt machen soll. Nach einem Kaffee setzte ich mich ins Auto und fahre zurück in die Agentur. Auf der Autobahn erreicht mich Mario: Er ist gerade mit Maria auf dem Weg in die Klinik. Die Wehen haben eingesetzt. Ich gebe Gas.